Wovon wir Menschen leben: Das "Vedschen"

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[Bearbeiten] Wovon wir Menschen leben: Das "Vedschen"

[Bearbeiten] Kurzgeschichte von Bettina Licht

Ursprünglich wollte Sonja ihren vegetarischen Gen-Food-Imbiss "Vegen" nennen, aber alle Freunde, denen sie den Entwurf zeigte, sprachen den Namen sofort wie "Vedschen" aus. Also nannte sie den Laden so.

Selbstständigkeit: die aufregendste Herausforderung von allen! In früher Vorzeit kämpften die Helden noch mit Ungeheuern oder Naturgewalten. Das war nichts im Vergleich damit, in der heutigen Zeit einen Imbiss zu eröffnen.

Als Standort kam selbstverständlich nur die Oststadt in Frage. Sonjas Wohnort seit ihrer Ausbildung zur BTA. Das einzige Viertel, in dem es noch bezahlbare Wohnungen gab. Außerdem waren die Menschen der Stadt hier noch lebendig. Während im alten Kern in den bedrückenden, schmalen Gassen die Nachfahren der Armen, Ausgestoßenen und Vergessenen hausten, türmten sich in weiten Teilen der ehemaligen Hafengebiete die neuen Börsen- und Bankengebäude übereinander.

Die Spannungen, die das Aufeinanderprallen der Werftarbeiterklasse und der Einwanderer aus aller Welt auf der einen Seite und der Bänker und Börser in ihren Uniformen auf der anderen Seite erzeugte, zog allerlei Künstler in den Stadtteil. Im Verborgenen der alten Backsteinhäuser und Fabrikhallen blühten die kleinen Galerien und das Kunsthandwerk. Unentdeckte Schriftsteller und Maler spannen sich in den Kokons ihrer dürftigen Dachwohnungen ein wie die Seidenraupen in der Hoffnung irgendwann als neuer Stern daraus hervorzukriechen, bevor das Monstrum Oststadt sie gefressen haben würde.

In den 24-Stunden-Frühstückscafes und Schnellrestos der Dr.-Braun-Straße verkehrten sie alle: die weißhaarigen Obdachlosen, die Pakistaner, Algerier und Kariben, die einfachen dialektsprechenden Hafenarbeiter genauso wie die stets gleichalten, geschlechtslosen Geldleute, die durch die Gezeiten der Großstadt täglich ins Ostend hineingespült und auch wieder hinausgesogen wurden.

Hier, wo das Leben stattfand, wollte Sonja ihren Imbiss platzieren.

Es hatte zwei ganze Jahre von der ersten Idee bis zur Eröffnung gedauert. An der Ecke Dr.-Braun - Glockenweg schmiegte sich das rote Backsteinhäuschen mit den schnörkelverzierten Fenstern an seine Nachbarn. Das unauffällige Haus hatte es Sonja angetan, ohne dass sie sagen konnte warum. Wie so viele Bauten im Ostend stand es schon lange leer. Sonja trieb sich eine Zeit lang fast jeden Tag dort herum und verlor sich in Tagträumen: Die Fenster mit dem gotischen Schwung vergrößern, die drei Sandsteinstufen zur Eingangstür mit einem Geländer versehen, neue Lampe über den Eingang und schließlich das Namensbanner. Und wer wusste schon, was drinnen alles zu tun war?

Zunächst einmal zerplatzten die buntschillernden Seifenblasen an den Mauern der Realität. Die Besitzer des Hauses: eine verstrittene Erbengemeinschaft und das Gebäude die ehemalige Synagoge des Stadtviertels. Das Bauamt sowie die Denkmalschutzbehörde striezten Sonja, kaum dass sie sich mit den Erben ins Einvernehmen gesetzt hatte, mit einer Flutwelle von Bestimmungen, Antragsformularen, Gutachten, Vorschriften. Monatelang war es unklar gewesen, ob ein Speiselokal in dem ehrwürdigen Bauwerk zulässig sei. Dann die Erleichterung, als die Mail mit der Genehmigung ankam.

Als größtes Wunder erschien es Sonja, dass das "Vedschen" genau so aussah wie sie es sich ursprünglich vorgestellt hatte: die farbigen Wasserfallwände, die Edelstahl-Glas-Theke, die grünen Tischchen mit den Ergohockern. Mit Klaus traf sie das Abkommen, dass er seine bunten Food-Werbefilme über die in den Wasserwänden installierten Bildschirme laufen ließ. So hatten sie beide etwas davon. Nun führte Sonja das "Vedschen" schon seit einem Jahr und hatte noch nichts am Design geändert. O.k., das war eine ungewöhnlich lange Zeit, aber die meisten ihrer Kundinnen und Kunden hassten den Wandel. Schnell fand sich ein Stammpublikum ein, das im Stadtteil der rasanten Umbrüche einen heimatlichen Ort suchte.

Ein bisschen sorgte sich Sonja in der letzen Zeit darüber, dass sie den Laden drei Wochen dicht machen musste, wenn sie demnächst ins Geburtshaus zur Entbindung wollte. Bisher hatte sie noch nie geschlossen gehabt.

Manchmal erging es Sonja ähnlich wie ihre Stammkundschaft: Auch sie suchte eine sichere Insel im Meer der Stadt und fand sie am Glockenweg. Nachdem Sonja im Kampf mit den Behörden gesiegt hatte, baute sie die rituellen Bäder im Keller der ehemaligen Synagoge zu einer modernen Küche um. Im Erdgeschoss legte sie den Gastraum an, und im ersten Stock richtete sie sich mit einer Miniwohnung ein.

Jetzt fanden im Keller Tag für Tag neue Rituale statt. Ab Sieben Uhr das Frühstücksbuffet vorbereiten: die abends bereits ausgesäten roten und gelben Pilzkulturen vom Vlies ernten, das Instant-Ei anrühren und die nachgewachsenen vegetarischen Tofuschinkenstücke, die hundertprozentig wie echter Schinken schmeckten, abschneiden und würfeln. Die Gazestreifen mit der Popkörner-Mischung in die Mikrowelle. Dann noch rasch die Backtomaten, die Sonja mit ihren roten und grünen Streifen manchmal fast an Äpfel erinnerten, von ihren harten Schalen und schwarzen Kernen befreien. Um halb Acht wurden die Croissants, Donuts und Bagel geliefert, und alles musste eingeräumt werden. Über ihrer Theke hatte Sonja große Glaskästen einbauen lassen, in die sie sie einstapelte, so dass die Gäste beim Eintreten gleich auf die leckeren Türme von glänzend braunen Backwaren blickten. Besonders stolz war Sonja auf ihre antike Espressomaschine, die sie bei "E-Magazin" ersteigert hatte. Viele Zehn-Uhr-Frühstücksgäste aus der Bankenstadt schoben sich nur schnell ein Käsecroissant und einen Latte Macchiato rein, um dann zur nächsten Arbeitsbesprechung oder Aufsichtsratssitzung zu eilen.

Als erste Frühstücksgäste kamen aber die alten Männer und Frauen, die keine Wohnung hatten. Oft standen sie bereits Viertel vor Acht um die Treppe herum und warteten auf Einlass. Sonja öffnete das "Vedschen" immer erst Punkt Acht. Auch das war ein Ritual, welches die Gäste schätzten. Ein Stadtteil kann wie ein Dorf sein. Und das "Vedschen" war wie eine Familie.

Die meisten Stammgäste kannten sich untereinander, und es fiel auf, wenn jemand eine Zeit lang nicht erschien.

Auch die Gäste zum Mittagstisch waren meist die Gleichen. Jeden Abend bereitete Sonja die zwei Stammgerichte vor. Sie wurden um 11.15 Uhr in Aluwannen in den großen Schnellherd geschoben und wanderten dann in die Warmstrahlenboxen in die Theke. Jeden Tag gab es etwas anderes: Sojaburger und Rotillen, Lupinennudeln mit Blauschimmelkäse oder Kokoscurry auf gebratenen Sarrasinen. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Sonja entdeckte eine günstige Gen-Food-Farm, die sie mit fast allen Zutaten belieferte. Die Produkte der "Pro-Vitata-AG" unterlagen einer strengen Lebensmittelüberwachung und trugen den Unbedenklichkeitsstempel mit der grünen Umweltfee.

Um halb Zwölf war es meist wieder oder noch leer. Die Börsianer eilten zu ihren Terminen, die letzten Werftarbeiter nahmen sich ihre Snacks in großen, braunen Tüten mit an die Arbeit, und die Obdachlosen zogen in die St. Vinzenz-Küche der Barmherzigen Schwestern, um dort ihr kostenloses Mittagessen einzunehmen.

Vereinzelt trudelten Sonjas Mittagsgäste ein. So gab es Gelegenheit, etwas mit den Stammbesuchern zu plaudern.

"Wie geht es Ihnen heute, Frau Schneider?" Die Angesprochene hatte sich mühsam mit Hilfe ihres "Thirdlegs" am Geländer die drei Stufen heraufgehangelt und studierte nun im Gastraum die bunten Angebote in der Theke.

"Danke der Nachfrage, es geht so weiter. Die Beine wollen nicht richtig mit im Moment. Ich hoffe, es wird bald wieder besser." Obwohl Sonja Frau Schneider schon eine Weile kannte, staunte sie trotzdem immer wieder darüber wie klein die alte Frau war. Die chronische Knochenkrankheit beugte sie noch zusätzlich nieder, so dass sie kaum über die Ränder der Aluwannen mit den Tagesgerichten blicken konnte. Nach wie vor schaffte es die medizinische Wissenschaft nicht, den Wettlauf mit den alten und neuen Gebrechen zu gewinnen.

"Was ist das, meine Liebe?" fragte Frau Schneider und deutete auf die Avenenbratlinge mit dem Tomoffelgemüse. Bevor Sonja antworten konnte: "Ach, ich glaube, ich nehme eine halbe Portion davon, es ist ja immer alles sehr gut gewesen bisher."

Beim Auffüllen fragte Sonja: "Und wie geht es Ihrer Schwester?" Noch bis vor kurzem waren die beiden alten Damen gemeinsam zum Mittagessen erschienen. "Ach, habe ich es Ihnen nicht erzählt. Es steht sehr schlecht mit ihr. Wir wussten doch die ganze Zeit nicht, was mit ihren Ohren los war. Sie hörte immer schlechter und ging von einen Ohrenarzt zum anderen." Es regte Frau Schneider sichtlich auf, darüber zu sprechen. "Sie ist in der Uniklinik. Die Ärzte sagen, es ist ein krebsartiger Ohrpilz. Es ist so schrecklich. Sie haben sie mit Chemotherapie behandelt, und ihre ganzen Haare sind ausgefallen. Einmal haben sie sie schon operiert, aber es hat nichts genützt. Sie wird nächste Woche zum zweiten Mal aufgeschnitten." Tränen standen in den Augen der kleinen Frau, als sie von ihrer Schwester sprach. Sonja war getroffen. Leid, Schmerz und Tod griffen plötzlich in ihre sichere Welt über. Diese Themen besprachen nur die Alten, unter Sonjas Freunden stellten sie ein Tabu dar. Sie fasste sich unwillkürlich an ihren runden Bauch, so als ob sie ihr Baby beschützen müsste.

Frau Schneider konnte nicht mehr weitersprechen, und Sonja wollte auch nichts mehr fragen. Jedes weitere Wort wäre in dem Fall zu viel gewesen. Die kleine Frau setzte sich auf den altmodischen Stuhl an den einzigen niedrigen Tisch im "Vedschen", Sonja stellte ihr die halbe Portion hin, wünschte ihr "Guten Appetit" und zog sich schnell hinter die Theke zurück, um ihren Gedanken nachzuhängen und das Besprochene zu verarbeiten.

Doch da kamen schon die nächsten Mittagsgäste. Tage hatten ihren eigenen Charakter: Manche plätscherten heiter dahin oder flossen geruhsam vorbei.

Dieser Tag stand unter finsteren Vorzeichen. Die zwei Schnepfen aus dem Büro der Unternehmensberatung waren heute wieder da und plapperten und debattierten ewig lange darüber, was sie essen wollten, standen mit ihrer Ignoranz den anderen Gästen im Weg herum und hielten den Verkehr auf. Als sich schon eine Schlange bis zur Eingangstür gebildet hatte, wurden die anderen Gäste ärgerlich und wiesen die beiden zurecht: "Können Sie nicht mal vorgehen und ihr Essen bestellen, Sie halten ja hier alles auf!" Die Angegriffenen schossen zurück, ein Wort gab das nächste, und eine andere Stammkundin versuchte die Gelegenheit des Streits zu nutzen und sich vorzudrängeln, was zu neuen Tumulten im "Vedschen" führte. 'Wie im Kindergarten', dachte Sonja genervt und stauchte die Gäste zusammen: "Wenn hier jetzt nicht gleich Ruhe ist, dann schmeiße ich alle raus. In meinem Imbiss wird nicht gestritten!"

Die Gäste standen stramm, die Stimmung kühlte runter, die Leute nahmen ihre Teller in Empfang und verteilten sich an die Bartische auf ihre Hocker. Und doch spürte man die Anspannung.

Als der erste Gästeschwung durch war, herrschte wieder Bracke. Die Tür öffnete sich, und eine junge Frau beladen mit Einkaufstüten, ein etwa dreijähriges Mädchen im Schlepptau, betrat den Gastraum. Das Kind trug einen Mantel mit Kapuze und stellte sich brav zu ihrer Mutter an die Theke. "Willst du lieber die Spaghetti oder eine Suppe?" fragte die junge Frau. "Das!" antwortete das Mädchen und deutete auf die Nudeln. Während ihre Mutter das Essen organisierte, blickte sich die Tochter um und schob ihre Kapuze zurück. Sonja schaute geistesabwesend zu dem Kind hin und erstarrte auf einmal: Ein feuerroter Hautausschlag überzog das niedliche Gesicht vom Stirnhaaransatz runter über die Schläfen bis zum Hals, und man konnte ahnen, dass es unter dem Shirt des Kindes weiterging. Das unglückliche Mädchen fing an, sich an der Stirn zu kratzen. Sofort blutete es. Durch die Bewegung des Kindes wurde die Mutter aufmerksam. Als sie sah, was geschehen war, packte sie die Hand ihrer Tochter, riss sie von ihrem Kopf fort und schlug mit der anderen Hand auf die Finger des Kindes. Auf der Stelle heulte die Kleine los. Als der Mutter bewusst wurde, was sie getan hatte, wandte sie sich entschuldigend an Sonja: "Sie tut mir ja so leid, es juckt ständig. Aber wenn sie daran kratzt, wird es nur schlimmer." Sonja versuchte, genau wie im Gespräch mit Frau Schneider, sich zu entziehen, indem sie schwieg. Von Anfang an hatte sie sich wie verrückt auf ihr eigenes Baby gefreut und war zuversichtlich. Doch beim Anblick des traurigen Mädchens bekam sie auf einmal Angst. Was, wenn ihr eigenes Kind auch eine so schlimme Krankheit hätte?

Zutiefst beunruhigt schaufelte sie die halbe Nudelportion für das Kind und die Avenenbratlinge für die Mutter auf Teller, streute wie in Trance Kräuter, Sprossen und geröstete Zitrollienkerne darauf und reichte sie über die Theke.

Dann griff sie in ein Glas neben dem Kassenautomaten, in dem Zungenblättchen mit Erdbeergeschmack für Kinder drin waren und wollte dem Mädchen eines schenken. Doch die Mutter fuhr dazwischen: "Nein, geben Sie's ihr nicht, das darf sie nicht essen!" Die Kleine schaute ihre Mutter mit großen betrübten Augen an. "Ach, es ist ja auch egal", sagte die Frau resigniert. "Die Ärzte wissen sowieso nicht genau, woher es kommt. Sie wollten sie in eine Psychotherapie-Kur schicken. Stellen Sie sich vor: so ein kleines Kind! Ich meine, es hat etwas mit der Babynahrung zu tun, die es damals gab. Es ist vielleicht eine Art Allergie. Das eine Zungenblättchen macht nun auch nichts mehr aus."

Sonja war heilfroh, als die beiden wieder verschwunden waren.

Nach dem Run auf das Mittagessen wurde es meist wieder ruhig im "Vedschen".

Zur Kaffeezeit kam oft die lustige Clique der Alten rein, so auch heute. Sonja freute sich, weil die kleine Gruppe sie bestimmt wieder auf andere Gedanken bringen würde. Die älteren Herrschaften aus der Oststadt hatten sich zu einem Clübchen zusammen gefunden und trafen sich fast jeden Tag zum Schwatzen oder Surfen im Internet.

"Einen wunderschönen Tag, meine Liebe", wurde Sonja herzlich begrüßt. Die fünf Gäste scharten sich um die Theke, begutachteten das Kuchenangebot - heute Buchweizenküchlein mit getrockneten Jostabaccis - und quatschten gegenseitig aufeinander und dann alle gleichzeitig auf Sonja ein. Herr Schuster wollte einen Espresso, Frau Hagemann ein Küchlein und einen Milchkaffee und so ging es weiter und flugs hatte Sonja alle Hände voll zu tun, was ihr nach den unangenehmen Erlebnissen heute sehr gelegen kam. "Na, es ist bald so weit bei Ihnen", stellte Herr Niebling fest. "Wir freuen uns ja alle so für Sie. Wann haben Sie denn Termin?"

"In einer Woche. Morgen gehe ich zum Arzt. Bisher macht es noch keine Anstalten auszuschlüpfen. Ich merke noch nichts", entgegnete Sonja stolz und glücklich darüber, dass jemand sie auf ihr Kind ansprach. Sie schob ihren runden Bauch ganz weit nach vorn, holte den Ultraschalldiffusor hinter der Theke hervor, legte ihn in Nabelhöhe an und ließ die Gäste das Baby betrachten.

"Ach, wie goldig, es bewegt den Arm! Sieh' mal da, der Kopf ist schon ganz weit unten." Die Alten versammelten sich um den gewölbten Bildschirm. "Es ist doch verrückt, dass wir noch nicht rausgefunden haben, was es wird. Sonst hätten wir uns schon mal einen Namen ausdenken können." Die Clique hatte immer regen Anteil am Werdegang des Kindes genommen.

"Hoffentlich geht alles gut", sagte Sonja, "dann mache ich den Imbiss auch nicht so lange zu. Ich will das Baby immer mit hierher nehmen."

Die Alten waren begeistert, breiteten sich mit ihren Kaffees und Küchlein rund um die Stehtischchen aus und fingen an, Geschichten über ihre eigenen Kinder zu erzählen, wie es war, als diese damals geboren wurden. Sie lachten und versuchten, sich gegenseitig mit verrückten Anekdoten über Babys zu übertrumpfen.

Sonja hörte zu und amüsierte sich.

"Wo ist denn heute eigentlich Frau Schäfer abgeblieben?" fragte sie nach einer Weile, als ihr auffiel, dass die nicht wie gewohnt dabei war. Frau Schäfer kannte immer die allerspaßigsten Geschichten.

Augenblicklich verstummte die ganze Kaffeegesellschaft. Der urplötzliche Stimmungsumschwung beim Erwähnen von Frau Schäfer ergriff Sonjas Innerstes und quetschte es schmerzhaft.

"Ach, Sie wissen es nicht", bemerkte Herr Niebling vorsichtig.

"Was?" Sonjas Hände wurden schlagartig eiskalt.

Die Gäste schauten verlegen.

"Wir wollen Sie in Ihrem Zustand nicht aufregen", sagte Frau Hagemann. "Wir erzählen es Ihnen später."

Das war nicht zu ertragen! Zuerst die Geschichte von Frau Schneiders Schwester, dann das geplagte kleine Mädchen und jetzt Frau Schäfer.

"Ich bin schon genug aufgeregt", sagte Sonja. "Jetzt müssen Sie es mir erzählen." Die Fünfergruppe mauerte.

"Lassen Sie mal, lassen Sie mal", sagte Frau Hagemann und versuchte offensichtlich durch die Wiederholung des Satzes, Sonja zu beruhigen.

Sonja hatte auf einmal das Gefühl, sich in einem Haus im Hochwassergebiet zu befinden. Das Wasser stieg unaufhaltsam, und durch die notdürftig abgedichteten Fenster und Türen drang es schon überall hinein, spritzte in dünnen Strahlen ins Innere und fasste nach ihr.

Sonja unternahm noch einige Versuche, etwas herauszubekommen, doch da sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich alles wissen wollte, gelang es den Gästen hart zu bleiben.

Ganz schnell hatten diese auf einmal ihren Kaffee ausgetrunken, ihre Küchlein verzehrt und sich verabschiedet.

Nur wenige Tage später ging es plötzlich los. Sonja konnte gerade noch fix das digitale Laufband in die Tür einspielen, damit die Leute Bescheid wussten, dass der Laden für einige Zeit geschlossen sein würde. Die Stammgäste waren sowieso informiert.

Tasche schnappen und ab ins Babyhaus bei der Münsterklinik, wo sie die drei Erlebnistage inklusive Delfingeburt im Meereswasserbecken gebucht hatte. Fünf Tage waren ihr zu teuer gewesen. Die Beraterin versuchte bei der Buchung, Sonja dazu zu überreden, den Geburtstermin festzulegen. Gesagt hatte sie: "Da können Sie mit Ihrem Geschäft doch alles viel besser vorbereiten", und gemeint hatte sie wahrscheinlich: "So können wir von der Klinik aus besser planen."

Doch Sonja blieb stark. Bei Freundinnen kriegte sie mit, dass die eingeleiteten Geburten ziemlich stressig verlaufen konnten. Das Beste war immer noch, den natürlichen Zeitpunkt abzuwarten. Obwohl sie alle Vorsorgechecks und Atem- und Yogakurse brav besucht und während der Schwangerschaft besonders auf gesunde Ernährung und Lebensweise geachtet hatte, bekam Sonja, als es ernst wurde, doch mittlere Panik, ob alles glücklich ablaufen würde.

Die Anweisungen des geschulten Entbindungspersonals, ihre Wunschmusik und das Entspannen im warmen Salzwasser wirkten beruhigend. Über die Platinen, die kurz vor der Geburt in ihre Gebärmutter gesetzt worden waren, konnten das Klinikteam und sie alles genau verfolgen, kontrollieren.

Und während sich Sonja auf die Geburtsbilder konzentrierte, hatte sie keine Gelegenheit, sich in ihre Ängste reinzusteigern.

Wie schnell es zum Schluss auf einmal ging!

"Da ist der kleine Delfin!" freute sich die Ärztin und hob das Baby über den Wasserspiegel. Sonja versuchte einen Blick darauf zu erhaschen. Die Ärztin, die bis zum Bauch im Salzwasser bei Sonja stand, drehte sich zur Seite, um es abzunabeln und verdeckte es dadurch.

"Geben Sie's mir, lassen Sie's mich sehen!"

Die Ärztin reagierte auf die angstvolle Ansprache, wandte sich wieder zu Sonja um, gab den Blick auf das kleine Wesen in ihren Händen frei und sagte: "Es ist alles in Ordnung, junge Frau, es ist ein Mädchen, meine Glückwünsche." Sie reichte sie rüber. Sonja, noch etwas benebelt durch die Geburtsdrogen, griff sich das Kind und untersuchte es aufgeregt.

Es sah wirklich aus wie ein normales Baby. Die Haut hatte sich Sonja glitschiger vorgestellt, aber vielleicht lag es nur an ihren tauben, wattigen Fingerkuppen wie sich das Kindchen anfühlte. Es verzog sein rotes und schrumpeliges Gesicht, kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und öffnete seinen Mund so weit, dass er das halbe Gesicht einzunehmen schien. Dann atmete es ein paar Mal hektisch und stieß einen jämmerlichen Quäkton aus.

Sonja fühlte sich auf einmal überglücklich und erleichtert, dass es so ein lebendiges kleines Kind war und drückte es an sich und küsste es wie verrückt.

"Na, na", sagte die Ärztin, "Sie quetschen es ja. Durch die Geburt ist es doch schon genug gedrückt worden. Geben Sie's mir. Wir legen es in die Wiege und Sie können sich noch etwas im Salzwasser ausruhen und dann rauskommen, wenn Sie so weit sind."

Den ganzen Geburtstag war Sonja völlig euphorisch. Sie summte immerzu die Lieder, die während der Geburt gespielt worden waren, trug ihre Tochter auf dem Arm herum oder beobachtete begeistert, wie das satte, zufriedene Kind in der Wiege lag.

Doch als die Wirkung der Drogen mehr und mehr abklang, überfielen sie erneut die Zweifel. 'Mit der Hautfarbe stimmt etwas nicht', empfand sie plötzlich.

'Es liegt am Licht', versuchte sie sich zu beruhigen. Sie ging ein paar Mal um die Wiege herum und schaute zuerst von oben, dann bückte sie sich und linste über den Wiegenrand von der Seite. Je nachdem wie sie guckte, schimmerte die Haut des Babys in einer anderen Nuance. 'Es sieht grünlich aus', dachte sie. Dann erschien die kleine Maja ihr plötzlich wieder rosagelb. Sonja riss panisch das arme, süß schlafende Wurm aus seinem warmen Bettchen heraus und hielt es direkt unter die Wandlampe. Der aufgeschreckte Säugling sperrte seinen Mund auf wie kurz nach der Geburt und greinte. Das grelle Licht verstörte das kleine Ding zusätzlich. Sofort färbte sich sein Gesicht dunkelrot vor Stress. Sonja versuchte, sich selbst zu beschwichtigen: 'Jetzt reiß dich mal zusammen', befahl sie sich. Sonja brauchte Gewissheit. Sie klingelte wie unter Zwang nach der Schwester.

Durch das nachdrückliche Schellen musste die Schwester annehmen, dass es sich um einen Notfall handelte und kam aufgeregt herbeigelaufen.

'Falscher Alarm', befand sie allerdings gleich. Die erfahrene Kinderschwester kannte die Anfälle junger Mütter, besonders, wenn es sich ums erste Kind handelte, deswegen reagierte sie geduldig und nachsichtig.

"Ich glaube, es ist etwas mit der Farbe nicht in Ordnung!" Sonja streckte das fassungslos heulende Baby der Schwester entgegen.

Diese nahm es in die Arme, klopfte ihm beruhigend auf den Rücken und sprach begütigend auf es ein. "Wir können die Farbkarte anlegen, da sehen Sie dann, dass alles stimmt mit ihrem Kind", sagte sie zu Sonja. Sie zog das kleine Gerät aus der Tasche und drückte es auf den Arm des Säuglings. "Hier, sehen Sie", erklärte sie zu Sonja gewandt, "es liegt zwischen blau und violett."

Sonja guckte aufs Display mit der Farbskala und den Zahlenwerten. Das äußerste Violett befand sich gerade noch im Sektor "normal". "Es ist aber im Grenzbereich", bemerkte sie zur Schwester.

"Machen Sie sich keine Sorgen." Die Kinderpflegerin versuchte sowohl auf das Baby als auch auf Sonja ermutigend einzuwirken. "Das gibt es oft am Anfang. Das wird schon. Wenn Sie möchten, lasse ich Ihnen die Farbkarte da. So können Sie die Veränderungen kontrollieren." Dann legte sie die durcheinander gebrachte Maja in die Wiege und ließ Sonja wieder mit ihr allein.

Sonja stand unschlüssig neben dem kleinen Bett und betrachtete ihre Tochter. Sie wusste, die Zweifel würden andauern. Nur noch so kurze Zeit, die sie beide im Geburtshaus bleiben würden. Dann war sie mit Maja auf sich gestellt.

Und wenn die Farbe sich nun nicht verändern würde? Und wenn die Kleine einen genetischen Fehler hätte? Das gab es ja oft. Und wer ahnte schon, was die ungewöhnliche Hautfärbung noch bedeuten konnte? Vielleicht stimmte auch sonst etwas nicht mit dem Kind. Seit sie das Mädchen mit dem roten Hautausschlag im "Vedschen" gesehen hatte, arbeitete es fortwährend in ihrem Unterbewusstsein. Ängste hatten sich festgesetzt und führten dort ein Eigenleben.

'Ich will heim!' Sonja dachte an ihr schnuckeliges Haus. Dort würden Maja und sie beschützt sein. Der Gedanke flößte ihr wieder Zuversicht ein.

Aber: einen Imbiss zu eröffnen war nichts im Vergleich damit, in der heutigen Zeit ein Kind zur Welt zu bringen und aufzuziehen.

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